ICE V - ein Bericht über die Weltrekordfahrten

Die Weltrekordfahrten des ICE/V im April 1988


Rechtzeitig zum 150 jährigen Jubiläum der deutschen Eisenbahnen am 07.12.1985 war der “Intercity Experimental“, kurz ICE, fertig gestellt worden. Dieser von der deutschen Schienenfahrzeugindustrie mit finanzieller Förderung durch den Bundesminister für Forschung und Technologie realisierte Versuchszug wurde von der DB anfangs noch etwas skeptisch beurteilt, war man doch an der Entwicklung nur marginal beteiligt. Das änderte sich rasch, als die ersten Fahrten mit dem ICE das innovative Potential, das in ihm steckte, deutlich werden ließ. Ein erstes Highlight waren zweifellos die Schnellfahrten mit bis zu 325 km/h auf der Strecke Gütersloh – Neubeckum im November 1985, die schnellste bis heute auf Altstrecken gefahrene Geschwindigkeit in Deutschland.

Und so war es nur logisch, daß für den Verkehr auf den damals noch in Bau befindlichen Neubaustrecken ein Triebzug nach dem Grundkonzept des ICE beschafft wurde. Das Kürzel ICE, mittlerweile zu einem Markenzeichen mit öffentlichem Erkennungswert geworden, wurde kurzerhand in “Intercity Express“ umgetauft und der “IC-Experimental“ zur Unterscheidung fortan als ICE/V bezeichnet.

Ab November 1986 stand dann endlich auch der erste Abschnitt der Neubaustrecke Hannover – Würzburg für Versuchsfahrten zur Verfügung. Aber es sollte noch bis zum April 1988 dauern, bis ein wesentliches Ziel für den ICE/V in Angriff genommen werden konnte: Das Austesten der mit der Rad/Schiene Technik sicher erreichbaren Höchstgeschwindigkeit.

Die Versuchsserie fand in der Zeit vom 22. – 29.04.88 statt und endete als Krönung mit der Weltrekordfahrt des ICE/V am 01.05.88. Im Gegensatz zu den früheren (und späteren) Rekordfahrten der französischen Konkurrenz blieb der Zug, der ja ohnehin ein Versuchsfahrzeug war, technisch völlig unverändert und wurde ledig um einen Mittelwagen auf vier Fahrzeuge verkürzt. Auch an der Strecke wurden nur geringfügige Modifikationen vorgenommen (Fahrdraht strammer gespannt, Weichen verriegelt)


Bei Obersinn entstand dieses Foto am 27.04.1988. Im Hintergrund die alte Nord-Süd-Strecke. Doch was da als Erstes kam, war sicher nicht wirklich für höhere Geschwindigkeiten geeignet: Es war der für eine Streckenbereisung eingesetzte Gießener 798 728, mit dem das zukünftig an der NBS beschäftigte Personal schon einmal Streckenkenntnis erwerben sollten.

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Wer die alte N-S-Strecke auf dem letzten Bild nicht erkannt hat – hier wird’s deutlich: Mit IC 581 „Riemenschneider“ rauscht eine 103 nach Süden. Direkt hinter der Lok ist außerplanmäßig ein Gesellschaftswagen in den Zug eingereiht.
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Und da ist der Star, der ICE/V. Mit TK 410 002 nachlaufend kommt er fast lautlos und ohne Vorwarnung von Süden herangeschossen. Hier, kurz hinter dem eigentlichen Meßabschnitt und nach einer Meßfahrt mit 350 km/h, dürfte die Geschwindigkeit nur knapp darunter gelegen haben. Die Hochgeschwindigkeitsfahrten fanden übrigens ausschließlich nordwärts statt, die Rückfahrten erfolgten auf demselben Gleis, das während der gesamten Versuche betrieblich für alle anderen Zugfahrten gesperrt war.
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Der Übf (Überholbahnhof) Mottgers war der nördliche Endpunkt der Versuchsfahrten. Dort standen etliche Bauzüge sowie Gleis- und Fahrleitungs-Unterhaltungsfahrzeuge in Bereitschaft. So gar nicht in die schöne neue Eisenbahnwelt zu passen schienen allerdings der Fahrleitung-Meßwagen Klv 60-9001 (Einzelstück) und der schon arg heruntergekommene Regel-Turmtriebwagen 701 001.
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Die letzte Aufnahme vor dem Zustieg zeigt den ICE/V (vorn 410 001) bei der Einfahrt in Mottgers. Der Zug hat soeben seine 1. Fahrt mit 360 km/h absolviert, schneller als je zuvor ein Zug in Deutschland, aber immer noch unter dem bestehenden Geschwindigkeitsrekord des TGV von 381 km/h.
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Neben dem ICE/V waren noch weitere Meßzüge auf der Strecke unterwegs, um die Einwirkungen des mit hoher Geschwindigkeit begegnenden ICE/V’s auf andere Fahrzeuge zu untersuchen. So z.B. kurz hinter dem Bahnhof Rohrbach, wo 120 004 vor einem Meßwagen im Gegengleis steht.
Etwa hier begann der eigentliche Höchstgeschwindigkeits-Abschnitt. Das Gefälle hinunter ins Maintal, durch den 5501 m langen Mühlbergtunnel und über die Maintalbrücke Gemünden hinweg wurde der letzte Schwung geholt - dann folgten ein paar Sekunden Beharrungsfahrt bis zum Bf Burgsinn und schon war's vorbei. Der Rest war Ausrollen.
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Bei den Versuchsfahrten wurde die Höchstgeschwindigkeit stufenweise um 10 km/h erhöht, wobei jede Geschwindigkeitsstufe zweimal zu fahren war, bevor die nächste Stufe angegangen wurde. Während der Fahrt wurden vor allem die fahrtechnischen Parameter (Kräfte zwischen Rad und Schiene, Beschleunigungen und Relativwege) und der Stromabnehmerlauf online überwacht. Nach jeder Meßfahrt, i.d.R. während der Rückfahrt zum Startpunkt Hohe Wart bei km 311, wurden die Meßwerte dann noch einmal sorgfältig zusammen mit den Experten der DB und der Industrie an Bord des Zuges analysiert, bevor der Versuchsleiter die nächste Geschwindigkeitsstufe freigab.
Die Aufnahme aus dem Meßwagen entstand am 28.04.88 – das erste Etappenziel ist erreicht: Mit 386 km/h ist der ICE/V der schnellste Zug der Welt und das blaue Band der Schiene wieder einmal in Deutschland. Die Anzeige vor Kopf der Meßgeräteschränke zeigt folgende Daten an: Uhrzeit (09:42:14), Streckenkilometer (291,19) und momentane Geschwindigkeit in km/h (386).
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Und das ist der Moment, den alle Beteiligten herbeigesehnt hatten. Lokführer Ulrich Baum macht die Beckerfaust (das war damals gerade “in“) und im Führerstand bricht Jubel aus: Erstmalig in der Geschichte der Eisenbahn wird die Schallmauer von 400 km/h erreicht (und wenig später durchbrochen). 
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Am nächsten Tag wurde die Geschwindigkeit in mehreren Fahrten noch einmal geringfügig bis auf 404 km/h gesteigert. Auf eine weitere Erhöhung wurde verzichtet, da man den neuen Geschwindigkeitsrekord der offiziellen Fahrt mit VIP’s und geladenen Gästen am 01.05.88 vorbehalten wollte. Für das “einfache Volk“, die Mitarbeiter von DB und Industrie, die den ICE/V zu diesem großartigen Erfolg geführt hatten, war da natürlich kein Platz. Für die gab es am Nachmittag des 29.04. nach Abschluß der Fahrten ein herzliches Danke-Schön vom Präsidenten des Bundesbahn Zentralamts München, Theophil Rahn, und den Projektleitern bei DB und Industrie und natürlich das obligate Gruppenfoto. Auf dieses etwas sterile Bild wird hier verzichtet und es wird lieber das allgemeine “Durcheinander-Gerenne“ danach gezeigt, das etwas mehr von der allgemeinen Hochstimmung rüber bringt.
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Dezent im Hintergrund des fröhlichen Treibens im Bahnhof Mottgers hielt sich 103 143, die ebenfalls mit einem Meßzug an den Versuchen beteiligt war.
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Bei der öffentlichen Präsentationsfahrt am 01.05.88, zu der der Vorstand der DB den Minister für Forschung und Technologie Dr. Riesenhuber, den Verkehrsminister Dr. Warnke, prominente Vertreter aus Politik und Wirtschaft sowie zahlreiche Pressevertreter eingeladen hatte, wurde planmäßig ein neuer Geschwindigkeits-Weltrekord für Schienenfahrzeuge aufgestellt: 406,9 km/h ist der offiziell festgestellte Wert. Damit war die Rad/Schiene Technik in einen Geschwindigkeitsbereich vorgestoßen, den bisher die Magnetbahn für sich reklamiert hatte.

Als Begrenzung erwies sich übrigens die “enge“ Kurve mit 5500 m Radius nördlich des Bahnhofs Rohrbach (Ende bei km 299, siehe Bild 6), die max. mit 360 km/h durchfahren konnte, ohne die zulässigen Querkräfte zwischen Rad und Schiene zu überschreiten. Und auch das Ende des Höchstgeschwindigkeitsabschnitts war durch eine Kurve vorgegeben, die sich mit einem Radius von 5300 m vor dem Bf Burgsinn befindet. Bemerkenswert: Exakt in dem mit max. Geschwindigkeit befahrenen Abschnitt befindet sich der 1140 m lange Einmalbergtunnel – über 400 km/h im Tunnel, das wenigstens ist bisher unerreicht. Die Fahrschaulinie der Rekordfahrt vom 01.05.88 veranschaulicht den Geschwindigkeitsverlauf über dem Streckenband.
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Daß unsere französischen Freunde alles daran setzen würden, diesen Weltrekord zu überbieten, war ziemlich klar. Daß es mit 515,5 km/h allerdings so deutlich ausfallen würde, konnte sich damals keiner vorstellen. Das kurzzeitig diskutierte deutsche “Projekt 555“ wurde wegen des nicht vertretbaren Kosten – Nutzen Verhältnisses still und heimlich wieder beerdigt.

Wie dem auch sei, die Erfolge des ICE/V und der daraus entstandenen ICE-Familie haben sicherlich einen großen Anteil daran, daß sich deutsche Eisenbahntechnik im internationalen Wettbewerb der Schienenfahrzeughersteller erfolgreich behaupten kann.

Vielen Dank an Ulrich Budde für diesen tollen Beitrag und den seltenen Fotos!
www.bundesbahnzeit.de